
Flussabwärts: Aufzeichnungen einer Lesereise
Der Rhein durchquert auf seinem Weg in die Nordsee Länder, Gemeinden, Geschichten. Die mehr als tausend Kilometer lange Lebensader ist ein reicher Lebensraum, sowohl für die Natur als auch für die Poesie. Hans Jürgen Balmes liest aus seinem »langen Liebesbrief an den Fluss seines Lebens«, der alles verbindet. In diesem Beitrag nimmt er uns mit auf die Stationen seiner jüngsten Lesereise.

Alles fließt, aber das Buch liegt, gedruckt und noch nicht erschienen, im Dunkeln. In dem Moment, wo sich das Buch schließt, kommen die vergessenen Geschichten. Auf der Lesereise begegnen sie mir wieder.
Fahrt entlang des Rheins im Zug, unterwegs zu Lesungen in Koblenz, Düsseldorf, Bad Godesberg, Oberwesel: Wie ein Prospekt fährt der Mittelrhein am Fenster vorbei. In der Neigung des Zuges wird Turners Dynamisierung des Blicks spürbar, er zeichnete die Landschaft in all ihrer perspektivischen Verschiebung, die er beim Wandern, zu Fuß und im Boot, später vom Dampfer aus beobachtete. Im Zug: Drive-by-Turner.
Koblenz, wo ich herkomme: die erste Lesung vor Publikum. Die online-Premiere im Literaturhaus Frankfurt war ohne Gegenüber, nur die Kamera und der Moderator Jan Wilm auf dem Schirm. Hauke Hückstädt lobt begeistert das Buch, ich werde rot und lese stockend, als würde ich dem eigenen Text nicht trauen. In Koblenz geht es besser, als hätte der Text Augen. Organisiert hat die Lesung Rainer Marquardt von der Reuffel-Buchhandlung, in der ich meine Schulbücher kaufte. Es kommt auch der Deutschlehrer von früher in den Festungsbau mit Blick über Stadt und Fluss. Er stellt fest, ich hätte mich gar nicht verändert.

Düsseldorf: Jedes Buch hat Leser:innen, für die das Buch zu spät kommt. Dem Lyriker Thomas Kling und der Malerin Ute Langanky hatte ich vor zwanzig Jahren eine Passage über einen Steinbock vorgelesen – nun ist die Stelle im Buch. Vor der Lesung besuche ich Ute wieder im Atelier. Etwas schließt sich. Thomas war ein Wunschleser, jetzt ist er seit 17 Jahren tot. Ute und ich fahren zur Lesung. Im Heine-Haus haben Selinde Böhm und Rudolf Müller eine Vitrine mit Thomas-Kling-Bänden, zwei Windhunde liegen davor und dösen. Der Moderator Philip Holenstein spricht über John Berger, noch ein Wunschleser, und alle zusammen werden wir unter den Blicken der Hunde zu Freunden.
Bad Godesberg: Einer meiner alten Professoren sitzt im Publikum. Es ist heiß, und er lehnt seinen Kopf an die Schulter des Nachbarn. Aber er hält durch. Die Parkbuchhandlung von Barbara Ter-Nedden erinnert mich an die frühere Schloss-Buchhandlung in Koblenz, wo Frau Christiansen sich um meine literarische Bildung kümmerte – neue Bücher, alte Bücher, ein solides Regal mit Klassikern, ein schmales für Lyrik. Es gibt eine Pause, wir stehen mit einem Glas Wein vor der Tür, und einer nach dem anderen erzählt Geschichten vom Rhein. Das Buch verzweigt sich wie ein Strom, dem man flussaufwärts in seine Verästelungen folgt. Ich erzähle von Frau Christiansen und meinem Bücherkonto, das mein Vater zu Weihnachten beglich. Alle sind an Bord. Alles fließt.
Oberwesel: Die Lesung ist wegen des Wetters aus dem Klostergarten in die Sakristei verlegt, schreibt die engagierte Veranstalterin, Frau Scheer – es drohen Gewitter und allzu viele hätten sich nicht angemeldet. Die Sakristei, ich staune, ist gotisch und geht auf das 13., die Kreuzrippen des Gewölbes auf das 15. Jahrhundert zurück. Der kleine Saal besitzt einen sonoren Hall wie ein leeres Schwimmbad. Diesmal sei meine Stimme auch ohne Mikrophon zu hören, denke ich. Draußen geht ein feiner Regen nieder. Der quadratische Raum füllt sich, und durch das Publikum wird der Hall verschluckt. Aber die gotische Akustik trägt die Stimme. Manche Leser:innen sitzen auf Armlänge vor mir.

Wiesbaden: Beate Tröger hat noch mehr farbige Zettel in das Buch geklebt als ich. Schon beim Lesen hat sie Fragen auf der Titelseite notiert, dann auf die Rückseite des Vorsatzes, ins Inhaltsverzeichnis, das Buch scheint vor Randbemerkungen und Unterstreichungen überzulaufen. Am liebsten würde ich es klauen und noch einmal neu lesen.

Auf dem Kühkopf, einer von einem alten Rheinarm umflossenen Insel: Als wir zuletzt hier waren, sahen wir am Horizont überall die startenden und landenden Flugzeuge des nahen Frankfurter Flughafens. Gleichzeitig berichteten die Zeitungen von Armeelastern, die die vom Virus Getöteten aus Bergamo holten. Kurz darauf blieben die Flugzeuge am Boden. Jetzt, zwei Jahre später, sind die Kondensstreifen der Düsenflugzeuge wieder da, zaghafte Striche, ungewisse Flugrouten, die Russland und die Ukraine meiden. Die Lesung ist von der nahgelegenen Bibliothek organisiert, die Einführung hält ein Förster – nie zuvor traf ich so viele begeisterte Leser:innen, die ihre Lieblingsstellen wieder hören wollten.
Schaffhausen: Wie eine Nadel schiebt sich das schmale Ausflugsschiff an den Rheinfall heran. Als die Gischt im Sprühregen auf das Segeltuchdach fällt, dreht der Skipper den Motor ab, und wir lassen uns stromab treiben. Das Tosen entfernt sich, die Ufer sind von einem tiefen Grün. Ich lese von Turners Besuch am großen Wasserfall. Regen setzt ein, das Rauschen wird stärker.
Friedrichshafen: Der Bodensee, die weite horizontale Erstreckung, in die sich der Rhein verliert. Den Tag über haben wir über den See hinweg auf den Säntis geblickt. Dann wirft der See seine Wettermaschine an, Wind und Wellen, Regenschauer und Wogen, Gewitter mit Seegang. Der Dampfer, auf dem wir lesen, stammt von 1913 und schiebt sich wie ein weißgestrichenes Modellboot zwischen all das Graublau. Im letzten Sonnenlicht leuchtet es auf wie ein Expeditionsschiff. Im Maschinenraum lesen wir über das Verschwinden der Arten und kommende Klimakrisen.
Basel: Felix Schneider warnt mich – er wird mich fragen, wie der Rhein bei Basel schmeckt. Vor der Lesung spüle ich meinen Kaffeebecher und gehe die Stufen hinunter zum Wasser: Ich probiere, es schmeckt, als ob man im Glas einen mit Wasser verdünnten Rest Fendant findet. Der Geschmack von einem im Wollhandschuh geschmolzenen Schneeball – wie bei den Quellen – hat sich verloren. Schweizerhalle, wo das kontaminierte Löschwasser des Sandoz-Chemieunfalls in den Fluss gelangte, liegt nur etwas stromauf. Tief in der Sohle wären vielleicht noch Schlacken der Giftkatastrophe zu finden, wenn sie nicht längst im Hafen von Rotterdam in den Schlick gespült wurden.

Freiburg: die erste Lesung im Freien, am Bahnhof Alte Wiehre unter Platanen. Simone Schröder moderiert, sie hat ein ganzes Kapitel an Fragen. Als Lektor war ich Moderator, wusste aber nie, wie es einem Autor dabei ergeht. Beim Signieren schenkt mir eine Leserin das Gehäuse einer Wasserschnecke, die sie vor 40 Jahren im Mündungsdelta des Alpenrheins im Bodensee fand. Wie ein Talisman liegt sie im Auto.
Das Zitat »ein langer Liebesbrief des Autors an den Fluss seines Lebens.«, stammt aus einem Artikel der FAZ vom 28.11.2021.
